DORT, WO ALLES ANFÄNGT
von Jacques Leveau
Zwar beginnt unsere Entdeckungsreise durch dieses Wunderland im Departement Loire-Atlantique, aber nur wenige Kabellängen vom Departement Morbihan entfernt. Le Pouliguen, die Schwesterstadt des eleganten Badeorts La Baule, von dem sie lediglich durch den Meerwasserkanal getrennt ist, liegt nämlich nur einige Schritte weit von dort entfernt.
Le Pouliguen ist ein vornehmes Seebad, wo die Urlauber, die
ihr Kinderherz bewahrt haben, jeden Augenblick hoffen können,
einem Kobold (auf bretonisch: „Korrigan“) zu begegnen,
der gerade einen Stadtbummel macht, denn diese in
der Bretagne heimischen Wichtelmännchen sind seit
undenklichen Zeiten in großer Anzahl als Höhlenbesetzer
am nahen Gestade beheimatet.
Bei unserer Ankunft im Departement Morbihan gelangen wir
in eine durch und durch bretonische Region, weil Standorte
altherkömmlicher Betätigungsfelder, Bauwerke aus dem
Zeitalter des Feudalismus und des Königtums sowie Überreste
aus uralter Zeit hier in geringem Abstand voneinander
vereinigt sind.
So zum Beispiel die Halbinsel Guérande... Zur galloromanischen
Zeit war die Insel Batz durch einen Golf vom Festland
getrennt. Erst später zog sich das Meer zurück, so dass eine
dauerhafte Verbindung mit dem Kontinent zustandekam.
Die auf diese Weise entstandene Tiefebene von Guérande
verblieb aber morastig und eignete sich vorzüglich zum
Anlegen von Salzgärten. Guérande (auf bretonisch: Gwenn
Rann: die weiße Fläche) besteht aus einem riesengroßen
Mosaik aus lauter kleinen Becken voll stehendem Wasser
sowie aus einer Unzahl meist rechteckiger, mit silbergrauem
Schlamm angefüllter, seichter Mulden, worüber das
Meerwasser langsam hinüberrinnt. Je mehr das dahinrieselnde
Wasser verdunstet, desto konzentrierter wird die
Salzlösung, die dann zum Schluss von den Salzarbeitern zu
kegelförmigen Haufen zusammengerecht und später in
Salzschuppen, bzw. in Salzscheuern zum Trocknen eingelagert
wird. Das Salz, das jahrhundertelang der einzig mögliche,
zur Konservierung der Nahrungsmittel verwendete Stoff
war, war in der Vergangenheit derart kostbar, daß es von
den meisten Herrschern mit einer Steuer belegt wurde.Heute noch erfordert seine Gewinnung eine Menge Arbeit.
Beim Anblick des Salzarbeiters, der mit gebücktem Rücken
einen der vielen Gräben säubert, wird man unweigerlich an die Bauern erinnert, die einst hinter ihren Pferden her
stapften und geradlinige Furchen in die Äcker zogen oder
auch an die Scharen unermüdlicher Landarbeiter auf den
Reisfeldern des Fernen Ostens.
Es hat übrigens den Anschein, als nähme alles im
Departement Morbihan seinen Anfang, zuerst die
Aufrichtung der Megalithen, sodann die Schaffung des
ersten Geschlechts der bretonichen Herzöge.
Diese langen, parallel zueinander dicht verlaufenden Reihen
von Steinen, die zwischen 5000 und 2000 Jahren vor Christi
Geburt, sehr lange vor der Ankunft der Kelten, von den
Urbewohnern dieses Landstrichs errichtet wurden, begrenzten
vielleicht eine dem Kult gewidmete Stätte. Manche versuchten
sogar nach dem Vorbild von A.Maudet de Penhoët,
den genaueren Inhalt dieses Kults näher zu bestimmen:
Ihrer Meinung nach sieht es ganz so aus, als stellte bei den
sogenannten Alignements die Anordnung der Steine auf
dem jeweiligen Gelände das getreue Spiegelbild der
Verteilung der Gestirne am Himmelsgewölbe dar. Übrigens
hat die Zusammenstellung dieser Steine, die infolge der
Erdumdrehung und des Wandels der Jahreszeiten in ihrem
Verhältnis zum Standort der Sonne dauernd abgeändert
wird, etliche Paläontologen auf die Idee gebracht, daß sie
auch eine Art riesiger Kalender sein könnte, dank welchem
die Ackerbauern der Urzeit die vier Hauptzeiten des Jahres
unterscheiden und feiern konnten.
Auch in Vannes scheint das bretonische Epos angefangen zu
haben. Bereits zu Beginn des 9. Jahrhunderts wird von
Kaiser Karl dem Großen in eigener Person einem Edelmann
der Gegend von eher bescheidener Abkunft der Titel: „Graf
von Vannes“ verliehen. Im Jahre 826 wird der nämliche
Nominoé von König Ludwig dem Frommen in den Stand
eines Herzogs der Bretagne erhoben. Mit ihm beginnt also
das erste herzogliche Geschlecht, denn Nominoé gab keine
Ruhe, bis er sich 845 durch seinen Sieg über Karl den Kahlen
bei Redon von der Lehnsherrschaft der Franken befreit und
die gesamte Bretagne unter seiner eigenen Macht vereinigt
hatte.
Der letzte Teil unserer ersten Wegstrecke durch die Bretagne
führt uns an einen Ort, der sich 1795 zur Zeit der
Französischen Revolution für die 10.000 emigrierten französischen
Adligen und die 15.000 „Chouans“ von Cadoudal
(dem Anführer der aufständischen Bauern) als eine schauerlichen
Mausefalle erweisen wird; diese Kämpfer, die
strenggläubige Katholiken waren, trachteten danach, die
Revolutionäre niederzuschlagen und die Monarchie in
Frankreich wiederherzustellen, aber sie alle wurden von
General Hoche auf den Stränden in die Falle gelockt und ihr
Soldatenleben endete auf der Halbinsel Quiberon entweder
mit der Gefangenschaft oder mit dem Tod. Die im Süden der
Halbinsel gelegene Stadt Port-Maria war einst der erste
Fische-reihafen für den Sardinenfang. Dort wurden die sogenannten
„Sardinenfabriken“ gegründet, in die die Frauen
aus der ganzen Umgebung nur so strömten, um während der
Fischfangsaison von Mai bis Oktober zu arbeiten; sie reinigten,
köpften, weideten die Sardinen aus, die ihre
Ehemänner in ihren Netzen heraufgeholt hatten. Heute
noch bietet Port-Maria 200 Fischkuttern eine sichere
Anlegestelle.
Genauso wie alles bei unserer Ankunft im Departement
Morbihan in Carnac angefangen hatte, und zwar mit
Steinen, deren strikte Anordnung bis heute ein Geheimnis
geblieben ist, endet unsere Reiseroute auf der Halbinsel
Quiberon im Felsenchaos an der sogenannten „Wilden
Küste“ (Côte Sauvage). An der westlichen Küste, die der
Gehässigkeit des Atlantiks ausgeliefert ist und vom grimmigen
Ozean wie irrsinnig gepeitscht wird, verzerren sich die
Felsen und Klippen zu gräßlichen Fratzen gleich den
Dämonen der Wasserspeier. Es fehlt nicht viel, und man
würde an manchen Stellen eine Gänsehaut bekommen,
wenn man zum Beispiel an jene Riffe auf der Höhe der ins
Meer hinausragenden felsigen Spitze von „Conguel“ denkt,
an denen das Panzerschiff „France“ 1922 zerschellte und
mit aufgeschlitztem Rumpf unterging.