LAND DES MEERES - LAND DES WALDES

von Ulrich Müller

 

Die Bretagne hat viele Gesichter und Geschichten. Viele davon sind ebenso mystisch und zerklüftet wie die Landschaft selbst. Gibt es in Europa vergleichbare Küsten? Wohl kaum! Rechnet man alle Einschnitte mit ein, so beträgt die Küstenlänge 1.200 km, Luftlinie sind es gerade einmal 600 km.
Entdecken Sie diese unvergleichbare Landschaft neu; tauchen Sie ein in Fotos und Geschichten!

 

 

 

 

Das Herz der Bretonen sei meerumspült, heißt es. Der Bretone wird als Seemann geboren, sagt der Volksmund. Tatsächlich fahren viele Bretonen zur See und stellen auch in der Marine und französischen Handelsschifffahrt das Gros der Besatzungen. Das Leben der Fischer in der Bretagne wird von den Gezeiten bestimmt. Nur bei Flut können die Boote auslaufen. Das Leben ist hart und die Erträge werden immer schlechter. Die küstennahen Fanggründe sind größtenteils überfischt, EU-Richtlinien und eine allgegenwärtig drohende Ölpest erschweren das Leben zusätzlich. Dennoch nimmt das Fangergebnis der Bretagne mengen- und wertmäßig in Frankreich immer noch die Spitzenposition ein. Die bretonischen Fischer sind – wie alle Bretonen – zunächst einmal Bretonen und erst sekundär Franzosen. Ein Blick in die Geschichte der Region verdeutlicht diese vehemente Trennung.
Die Bretagne hat eine abwechslungsreiche Geschichte hinter sich. Immer wieder einmal stand sie in der Gunst der Franzosen, dann wieder fiel sie und damit auch ihre Bewohner in Missgunst. Dies unterlag gewissen Modeströmungen, die besonders in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Bretagne zur Essenz dessen machten, was das in den Augen der Franzosen den politischen und kulturellen Fortschritt verkörpernde Paris als Provinz empfand. Dies waren: Naturhaftigkeit, Traditionsbewusstsein, Gläubigkeit und jene zivilisationsfremde Wildheit, die den Bretonen seit jeher nachgesagt wird.
Die bretonische Halbinsel, deren Spitze tief in den Atlantik vorstößt, wurde einst als Finistère - finis terrae - das Ende der Welt bezeichnet. Vor etwa 600 Millionen Jahren, im Paläozoikum, war das heutige Frankreich zum größten Teil von Wasser bedeckt. Durch die sogenannte Variskische Faltung entstanden vier Gebirge: Armorika, Zentralmassiv, Vogesen und Ardennen. Davon ist in der Bretagne heute nicht mehr allzu viel zu erkennen. Der alte Name Armorika ist ebenso gewichen wie das Gebirge, denn den höchsten Punkt der Bretagne bilden heute die Plateaus im Signal de Toussaines in den Monts d’Arrée mit gerade einmal 384 m. Die Bretagne teilt sich in Armor „Land des Meeres“, also die Küstenlinie, und Argoat, das „Land des Waldes“. Auch dies ist heute kaum noch nachvollziehbar, aber einst war die Bretagne nahezu komplett von Wäldern bedeckt. Davon ist nicht mehr viel geblieben, da seit der Römerzeit systematisches Roden den Waldbestand stark dezimiert hat.
Als die Bretagne noch Armorika, also Land am Meer, hieß, wurde sie von den Kelten besiedelt. Diese Besiedlung startete im 6. Jahrhundert vor Christus. Vor den Kelten lebte hier ein Volk, aus dessen Zeit die Megalithsteine erhalten sind, von dem aber sehr wenig bekannt ist Im Jahre 56 v.Chr. vernichteten Cäsars Truppen die Flotte der Veneter und die römische Herrschaft in Gallien begann. Wenn wir einer immens erfolgreichen und langlebigen Comicserie Glauben schenken dürfen, dann schloss diese Herrschaft ein ganz bestimmtes gallisches Dorf nicht mit ein.
Die römische Herrschaft hielt vier Jahrhunderte, hinterließ in der Bretagne aber relativ wenig Spuren.
Um 460 n.Chr. wurden die keltischen Britonen von den Angeln und Sachsen aus England vertrieben und besiedelten und christianisierten in zwei Jahrhunderten die Halbinsel. Aus Klein–Britannien wurde mit der Zeit die Bretagne.
Nach einer langen Zeit als Herzogtum und dem Tod der beliebten Herzogin Anna von Bretagne, wird die Bretagne im Jahre 1532 schließlich durch die Hochzeit von Annes Tochter an die französische Krone abgetreten.
Zwar war das Selbstbewusstsein der Bretonen in der Folgezeit etwas gestört, doch begann zugleich ein relativ goldenes Zeitalter für die nun französische Provinz. Durch das Aufblühen von Überseehandel, Tuchproduktion und Landwirtschaft kamen die Städte und Gemeinden zu Wohlstand.

Diese Blütezeit nahm in der Mitte des 17. Jahrhunderts ein abruptes Ende. König Ludwig XIV musste seinen Krieg mit den Niederlanden finanzieren und schuf, bereits hochverschuldet, die „Stempelsteuer“, das bedeutete, daß für jede ausgestellte Urkunde eine Gebühr zu entrichten war. Zugleich entzog er der Bretagne die Steuerfreiheit auf Salz. Die daraufhin ausbrechenden Aufstände wurden blutig niedergeschlagen.
Im 18. Jahrhundert machte sich erneut die Lage am Meer für die Bretonen bezahlt: Brest wurde wichtigster Militärstützpunkt Frankreichs und Nantes bedeutendster Hafen für das „schwarze Gold“, Sklaven aus Afrika.
Zu Beginn der Französischen Revolution im Jahre 1789 standen die Bretonen auf der Seite der Revolutionäre, zu sehr litten die Bauern unter den ständigen Steuererhöhungen. Die fortschreitende Säkularisierung ging den gläubigen Bretonen dann aber zu weit. Die Bevölkerung schlug sich zum größten Teil auf die Seite der Royalisten, womit ein blutiger Bürgerkrieg begann.
Als 300000 Bretonen 1793 einberufen werden, kommt es zur Gründung der konterrevolutionären Gruppe der „Chouans“. Dieser gehörten sowohl Bauern als auch Adlige und Geistliche an.
Der Konvent von Paris teilt die Bretagne willkürlich in 5 Departements ein, was wiederum den Widerstand der Bretonen hervorrief. Die Chouans verwickelten Paris in einen über zehn Jahre andauernden Guerillakrieg, der immer wieder blutige Vergeltungsschläge der Zentralregierung zur Folge hatte.
Schließlich jedoch wurde die Bretagne fester Bestandteil des zentralistisch regierten Frankreichs und wurde in den folgenden Jahrzehnten von Paris sehr stiefmütterlich behandelt. Die aufkommende Industrialisierung des 19. Jahrhunderts erreichte die Bretagne kaum. Einzig die Lebensmittel- und Schuhproduktion etablierten sich. Die Bretagne war wirtschaftlich nahezu isoliert; Hungersnöte und Seuchen plagten die Bevölkerung. Somit war es nicht verwunderlich, dass zu dieser Zeit die weit bis in das 20. Jahrhundert hineinreichende Landflucht ihren Anfang nahm.
Im 1. Weltkrieg wurden die bretonischen Soldaten geradezu verheizt, 300000 kamen bei der Infanterie ums Leben: 10% der Bevölkerung der Bretagne.
Im Jahre 1930 wird die „Parti national breton“ gegründet, die nach Unabhängigkeit strebt. Unerwünschte „Hilfe“ kam 1940 mit dem Einmarsch der Nazis in die Bretagne. Doch die Mehrzahl der Bretonen wollte von den Nazis nichts wissen und viele beteiligten sich in der Résistance aktiv am Kampf gegen die Besatzer. Nach der Landung der Alliierten in der Normandie im Juli 1944 hinterließen die Deutschen viele zum Teil erheblich zerstörte Städte.
In der Folgezeit versuchte die Zentralregierung die vernachlässigte Provinz gezielt zu fördern. Insbesondere in den 60er Jahren kam es wieder zu verstärkten Aktivitäten der bretonischen Befreiungsfront. Letztlich fehlte dieser Bewegung doch ein politischer Arm. Dennoch schlich sich so manche Forderung der Aktivisten in den bretonischen Alltag ein. So sind seit 1985 alle Straßenschilder wieder zweisprachig, außerdem erlebt die bretonische Sprache einen Aufschwung.
Trotz all dieser Historie erreichte das Weltgeschehen den westlichen Vorposten Galliens nur mit einer Zeitverzögerung, wie sie für die Geschichte der Bretagne fast zu allen Zeiten typisch war. Sie war entlegen und somit schwer erreichbar.
Asterix als Symbolfigur für die Eigenwilligkeit der Bretonen scheint denn auch gar nicht so weit hergeholt zu sein, wie man vielleicht vermuten könnte. Vielmehr ist er der Archetyp des Charakters, der auf das Überleben in einer feindseligen Umwelt programmiert ist. So scheint sich denn die sturmgepeitschte, granitene Landschaft der Bretagne eine Bevölkerung nach ihrem Bilde geschaffen zu haben.

Es ist nicht sonderlich verwunderlich, dass eine solche Landschaft ausreichend Stoff zur Legendenbildung bietet. Die berühmteste der Legenden ist zweifellos die des König Artus und seiner Tafelrunde. Im Wald von Brocéliande, heute der Wald von Paimpont, ca. 60 km westlich von Rennes gelegen, soll einst der Heilige Gral verloren gegangen sein. Im 6.Jahrhundert machte sich König Artus mit 50 seiner Ritter auf, diesen Kelch zu finden.
An diesen Ort hat sich der Legende nach auch der berühmte Zauberer Merlin zurückgezogen, um als Ein-siedler zu leben. Dort traf er die Fee Viviane und sie verliebten sich ineinander. Viviane entlockte dem Zauberer seine Geheimnisse und schloss ihn in einen magischen Kreis ein. Aus diesem hätte sich Merlin mühelos befreien können, doch aus Liebe fügte er sich in die Gefangenschaft.
Eine weitere berühmte Legende ist die von Tristan und Isolde. Tristan, ein Prinz vom Westzipfel der Bretagne (Léon), soll für seinen Onkel Marke, König der Cornouaille, in Irland um die blonde Isolde freien. Auf dem Schiff zurück trinken beide irrtümlich vom Zaubertrank, der die schöne Isolde an den alternden König binden sollte. Beide entflammen in leidenschaftlicher Liebe füreinander. Diese kann nur im Tode enden. Es gibt zwar Varianten der Geschichte, aber immer folgt Isolde dem Geliebten in den Tod. Die gleichnamige Wagneroper hat das Liebesdrama besonders berühmt gemacht.
Aus der Legendenvielfalt der Bretagne wurde oft – fälschlicherweise – auf einen besonders stark ausgeprägten Aberglauben der Bretonen geschlossen. Jedoch wissen die Bretonen sehr wohl Legenden und Geschichten von historischen Tatsachen zu trennen. Sie pflegen ihre Legenden dennoch, aber eben nur als das was sie sind: mystische Geschichten.
Weit verbreiteter als der Aberglaube ist denn auch der Glaube in der Bretagne. Ganz wichtig sind hierbei die Heiligen. Diese scheinen den Bretonen näher zu sein als Gott. Dies ließ die Vermutung aufkommen, dass das Pantheon der Kelten nicht wirklich verschwunden ist, sondern dass vielmehr die keltischen Götter christianisiert wurden. Die Heiligenverehrung nimmt in der heutigen Zeit zwar ab, aber selbst unter den „nichtpraktizierenden“ Bretonen, die heutzutage die Mehrheit stellen, gibt es kaum erklärte Atheisten.
Neben dem Glauben gilt der schon fast fanatische Individualismus als weiterer signifikanter bretonischer Charakterzug. Dieser drückt sich auch visuell aus. Der Variantenreichtum bei Einfriedungen und Felderbegrenzun-gen sucht in Europa seinesgleichen. Seien es Trockenmäu-erchen, die an irische oder galizische Landschaften erinnern, Buchen- und Kastanienhecken oder die Streuung der ländlichen Behausungen – jeder versucht sich soweit wie möglich vom Nachbarn abzusetzen.
Ob nun die Heide, die diese Behausungen umgibt, in den Augen des restlichen Frankreichs mal als „lieblich“, dann wieder als „finster“ galt, ist den Bretonen wohl ziemlich egal. Die Landschaft der Bretagne und auch deren Bewohner haben all diese literarischen und kulturellen Trends scheinbar unbeschadet überstanden. Nach wie vor sind die Bretonen stolz, in dieser unvergleichlichen Landschaft zu leben.
Begleiten Sie uns auf unserer Route durch diese wunderschöne Küstenlandschaft. Wir starten im Südosten der Bretagne in La Baule und setzen unsere Reise fort u.a. über Vannes, Quimper, Penmarch, die Halbinsel von Crozon, Brest, St Malo, Dinard und enden am Mont St Michel.